Ungenannter Autor
Terras Wächter
— Die Akademie —
Roman
Kapitel 01
Von draußen war ein dunkler, dröhnender Gong zu hören. Endlich zuende! dachte Angelo und packte seine Schreibsachen ein. Mit keinem Fach an der Akademie konnte er so wenig anfangen, wie mit Kunstgeschichte. Tatsächlich schweiften seine Gedanken in diesem Fach so oft ab, dass seine Mappe bald mehr Bilder am Rand der Arbeitsblätter enthalten würde, als wenn sie praktische Zeichenübungen gemacht hätten. Und wozu brauchte er dieses Wissen überhaupt, wenn er Wächter werden würde? Sprachen, Mathematik und Alchemie, Geschichte und Politik konnte er verstehen, aber Kunstgeschichte? Ein Blick zu seinem Freund Lucas am Nebentisch bestätigte sein Gefühl. Lucas war einfach auf seine Federmappe gesunken und hatte die Hälfte der Stunde verschlafen. Angelo musste sich ein Lachen verkneifen als er sah, wie Lucas ihn nun aus einem müden Augenspalt anblinzelte. "Ist es endlich vorbei?", wollte dieser wissen. Angelo nickte und sofort kam wieder Leben in Lucas' Miene. "Ein Glück! Ich halte das Gesülze nicht mehr lange aus. Lass uns nächstes Mal einfach weg bleiben und für Mathe lernen oder uns gegenseitig mit Gummischläuchen auspeitschen, das macht sicher mehr Spaß und ist lehrreicher." Angelo grinste verkniffen, "Ich bin mir nicht sicher, ob wir dieselbe Definition von Spaß haben, Lucas." Lucas antwortete nur mit einem Grinsen und packte ebenfalls seine Sachen ein. Angelo und der ein Jahr jüngere Lucas waren Jungen an der Schwelle zum Erwachsenenalter, doch Lucas hatte noch immer die Flausen eines Kindes im Kopf, wohingegen Angelo durch seinen Dienst im römischen Militär seiner Kindheit schon vor Jahren lebe wohl gesagt hatte. Der hoch gewachsene Bursche war dunkelhaarig und hatte haselnussbraune Augen. An seinem Kinn spross ein noch weicher, aber schon durchaus ansehnlicher Bart und seine Schultern waren durch Jahre langes Training breit geworden. Lucas hingegen war drahtig und hellhäutig. Er war der Sohn eines atlantischen Händlers und hatte nie hart arbeiten oder gar kämpfen müssen. Lucas’ Leben war aus Angelos Blickwinkel wie ein Traum, ein Luxus, den Angelo nicht genossen hatte. Schon als junger Bengel musste er mit anpacken und schon früh hatte er Geld verdienen müssen, um seiner Familie über die Runden zu helfen. Seine Eltern und Geschwister liebten ihn, aber als Familie unter der Armutsgrenze war Angelos Sippe darauf angewiesen, dass jeder seinen Teil beitrug. Darum war Angelo so früh es sich einrichten ließ dem Heer beigetreten und hatte sich viel zu früh die Ränge hoch geschummelt, um seinen Eltern neben Essen und Unterkunft auch Unterstützung für ein bisschen Luxus zukommen zu lassen. Und es hatte wunderbar funktioniert. Es war Angelo nicht unangenehm, viel und hart zu arbeiten, das war er gewohnt, und so wurde er mit nicht einmal siebzehn Jahren zum jüngsten Centurio der Geschichte Roms befördert. Als er und Lucas aus dem Zimmer gingen, um sich zu ihrer nächsten Unterrichtseinheit zu begeben beobachtete er Lucas, der mit dem Blick auf eine Liste neben ihm her durch die hellen, lichtdurchfluteten Korridore der Akademie ging. "Haben wir alles geschafft, was wir zu heute erledigen sollten?", fragte er seinen Freund. Lucas blickte auf und schüttelte den Kopf. "Uns fehlen noch drei Versuchsaufbauten und sieben Beobachtungen", er steckte die Liste in seine Mappe, "Ich glaube aber, dass wir ganz gut in der Zeit liegen. Die Anderen haben teilweise noch weniger geschafft und ich wüsste von niemandem, der mehr hat, als wir. Die Dozentin gibt uns einfach mehr, als wir schaffen können." Angelo nickte, "Als hätten wir keine anderen Kurse." "Genau". Lucas war der organisierteste Mensch, den Angelo je getroffen hatte.. Alles hatte seinen Platz und Spaß kam immer erst nach der Ordnung. Nun an der Akademie der Wächter rettete ihm sein Freund mit dieser Einstellung so oft den Hintern, dass Angelo aufgehört hatte zu zählen und einfach dankbar war, dass er sich nicht selbst um alles kümmern musste. Angelo war gut im Lernen, aber es fiel ihm leichter, auf einem Schlachtfeld den Überblick zu behalten, als in einem vollen Stundenplan. Lucas strich sich die langen, dunklen, gewellten Haare zurück und band sich einen neuen Zopf. Die nächste Stunde war Alchemie und sie hatten noch eine gute Viertelstunde Pause, bis sie im Hörsaal sein mussten, als Angelo ein wütendes Zetern hörte, dass aus einem Gang in der Nähe zu kommen schien, "Gib das zurück, du Stück Scheiße oder ich brech' dir den Kiefer!" "Lucas, komm mit", winkte Angelo seinen Freund zu sich heran und ging in Richtung des Tumults. In einem abgelegeneren Korridor standen einige kräftig gebaute Schüler und umringten ein Mädchen, dass wohl in Angelos Alter sein musste. Ihre blonden Haare waren zerzaust und unter ihrer Nase war eine dünne Blutspur zu sehen. Ihre blauen Augen funkelten vor Wut und sie ballte die Fäuste während sie einen der Jungen beschimpfte, der eine Tasche in der Hand hielt und sie an einem Finger baumeln ließ. Lucas fasste Angelo am Arm, "Das ist die Ragnardottir. Die ist schlechter Umgang, eine Unruhestifterin. Lass uns da lieber raus halten, sonst kriegen wir noch Ärger." Angelo wand sich mit einer geschickten Bewegung los und lies Lucas stehen. Tut mir leid, mein Freund, so läuft das bei mir nicht, dachte er während er sich zwischen die Bullies hinter der Schülerin stellte. Er hob die Hände, als wolle er etwas fangen und tatsächlich warf der Schüler mit der Tasche diese in hohem Bogen zu ihm herüber. Er fing die Tasche, doch als sich die Schülerin vor Wut schnaubend zu ihm umdrehte hielt er ihr die Tasche bereits mit beiden Händen ausgestreckt und mit vollkommen ernster Miene hin. Sie griff nach der Tasche und er machte keinerlei Anstalten, sie ihr wieder zu entreißen. "Ich habe etwas dagegen, wenn ihr unsere Mitschüler so behandelt. Lasst das in Zukunft.", sagte er zu den Bullies gewandt. "Was soll der Scheiß Soldatenjunge? Was mischst du dich da ein?", polterte einer der Bullies los, doch Angelo hielt ihm eine gestreckte Hand entgegen, als wolle er ihm zeigen bis hier hin und nicht weiter und der Junge hielt inne. "Kümmert euch lieber um eure Noten, als euch zu benehmen, wie die letzten Idioten. Davon gibt es draußen genug. Hier drinnen brauchen wir keine." Die Bullies sahen sich gegenseitig an und der Anführer stieß verächtlich die Luft aus. "Ja klar. Du wirst dich noch wundern, Soldatenjunge." Dann schweifte sein Blick in die Ferne hinter Angelo und unvermittelt drehte er sich um und befahl seinen Handlangern mit einer Geste, ihm zu folgen. Kurz darauf waren die Bullies verschwunden, aber nicht, ohne das Mädchen und Angelo noch zu verspotten.
"Ist alles in Ordnung?", fragte Angelo das Mädchen und wies auf ihre Nase. Sie wischte sich das Blut weg und nickte. "Ich bin Angelo. Bist du nicht…", sie schnitt ihm das Wort ab, "Ich weiß wer du bist und du weißt, wer ich bin.", sie schniefte und schwang sich ihre Tasche über die Schulter, "was sollte der Musterknabe der Schule mit der Unruhestifterin zutun haben wollen? Oder willst du sicher gehen, dass deine Sozialnoten auch stimmen?" "Ehm…", wollte Angelo anfangen, doch das Mädchen fiel ihm ins Wort, "Dafür musst du dir wohl wen anders suchen, ich hab keinen Bock auf diesen weißer-Ritter-Scheiß". Mit diesen Worten drehte sie sich um und stürmte davon. Angelo stand wie angewurzelt da, als er im Augenwinkel Lucas beobachten konnte, der neben ihn getreten war. "Wo kam das denn gerade her?" "Das ist Sagara Ragnardottir, die Tochter eines einflussreichen Politikers", antwortete Lucas naseweis, "sie ist vor allem durch ihre Kontakte an die Akademie gekommen und ziemlich eingebildet. Außerdem munkelt man, sie nehme Drogen und sei käuflich”, er zwinkerte Angelo zu, “wenn du verstehst, was ich meine." Angelo verstand sehr wohl und er wollte gar nicht wissen, aus welcher dubiosen Quelle Lucas diese Informationen schon wieder hatte. Er gab nicht viel auf solche Gerüchte, denn er wusste aus eigener Erfahrung, wie viel ein falsches Gerücht kaputt machen konnte. In den ersten Wochen an der Akademie hatte sich hartnäckig das Gerücht gehalten, er sei ein Berserker aus Germanien und habe an der Grenze zu Rom geplündert, gebrandschatzt und vergewaltigt, nachdem er hunderte Soldaten mit einem riesigen Schwert in Stücke gehackt hatte. Tatsächlich hatte Angelo erst ein einziges Mal in einer Schlacht gekämpft und hatte dabei sicher nicht gegen den Ehrenkodex des römischen Heeres verstoßen. Er war immerhin Berufssoldat gewesen. Gut er war auch einfach froh gewesen, überhaupt überlebt zu haben. Als einfacher Soldat hatte er nur Stunden lang hinter seinem Scutum gestanden und mit dem Pilum fast blind in die anstürmenden Feinde gestochen, bis... Er schüttelte den Kopf um die Bilder los zu werden und wieder in die Gegenwart zu gelangen. "Du solltest wirklich aufhören, dich in sowas einzumischen. Das macht dir nur das Leben schwer.", belehrte ihn Lucas, doch Angelo lachte nur, "Sie ist ziemlich süß." Lucas schnaubte, "Ja, wie Tollkirschen." Angelo lachte auf, als der Gong ertönte. "Oh nein! Schnell los!", Lucas schubste Angelo den Gang entlang in Richtung des Hörsaals für Alchemie. Die beiden würden Ärger bekommen, wenn sie zu spät zum Unterricht erschienen.
Kapitel 02
Angelo überquerte die Schwelle zur Akademie kurz vor der Sperrzeit für Minderjährige. Es kam ihm lächerlich vor, dass er vor neun Uhr auf dem Gelände der Akademie zu sein hatte und ab 11 Uhr auf seinem, und nur seinem eigenen, Zimmer sein musste. Angelo hatte in seiner Zeit beim Heer Nächte lang hell wach verbringen müssen, um einen Feind abzupassen, der nie kommen sollte, er hatte mit seinen Mitstreitern bis in die Morgenstunden gefeiert und hatte nie gefragt, wann er im Bett zu sein hatte. Schon in seinem Elternhaus gab es zu viele Dinge, die einfach nicht liegen bleiben konnten und noch am selben Abend erledigt werden mussten. Jugendliche zu festen Zeiten auf einem Gelände einzusperren und früh ins Bett zu schicken war wirklich ein Luxus, den sich nur reiche Großstädter leisten konnten. Die Akademie lag am Rand von Atlantis, der Hauptstadt des gleichnamigen künstlich angelegten Kontinents mitten im atlantischen Ozean. Es war ein weitläufiges Gelände mit Wiesen und Sportplätzen, ruhigen Nischen zum Arbeiten und entspannen, vielen Gebäuden mit Lernzimmern, Klassenräumen und Hörsälen. Vier Jahre dauerte die Ausbildung zum Wächter. Nach vier Jahren wurde man Teil der Eliteeinheit, die für Balance und Sicherheit auf Terra sorgte. Das Eintrittsalter für die Akademie war sechzehn Jahre. Manche kamen etwas früher, andere etwas später, aber die meisten waren im zweiten Lehrjahr, genau wie Angelo siebzehn Jahre alt und voller Tatendrang. Die meisten Schüler nahmen ihre Ausbildung hier sehr ernst, denn der Dienst als Wächter war nicht nur ein wichtiger Teil der Gesellschaft, sondern auch eine Ehre. Wächter zu sein zeugte von einer der besten Ausbildungen und einer hohen Disziplin und moralischen Stärke. Angelo war sich sicher, dass er die beiden letzten Punkte erfüllen konnte. Beim Lernen für die Ausbildung hatte er so seine Zweifel, aber er musste sich anstrengen, denn er war einer der Schüler mit einem Vollstipendium, das nicht nur seine Lehre finanzierte, sondern auch den Arbeitsausfall für seine Eltern kompensierte und zwar mit mehr Geld, als er jemals durch Arbeit auf dem Feld oder in der Armee hätte einbringen können. Die Drachenclans, die die Wächter ins Leben gerufen hatten suchten ihre Anwärter nicht nur in den Reihen der Reichen und Adligen, sondern überall in der menschlichen Bevölkerung. Die Wächter wurden von ihnen genetisch augmentiert, sodass sie Magie nutzen konnten, höhere Intelligenz hatten und schnellere Reflexe. Also eigentlich alles, was Felin von Natur aus hatten. Doch Felin waren mit Drachenmagie genau deshalb nicht kompatibel und nicht als Wächter geeignet. Trotzdem gab es an der Akademie einige Dozenten, die Felin waren. Sie waren allesamt mit samtigem Fell bedeckt, hatten scharfe Augen mit schmalen Pupillen und längliche Gesichter mit gespaltenen Oberlippen und weichen, ledrigen Nasen, die von Schnurrhaaren gesäumt waren. Ihre Füße waren im Vergleich zu denen von Menschen viel länger und sie gingen auf ihren Zehen, was ihren Gang kraftvoll anmuten ließ. Außerdem hatten sie Krallen an Händen und Füßen, die sie ausfahren konnten, wenn sie sie brauchten. Die meisten Felin trugen ihr Kopfhaar lang, sodass es sich deutlich von den verschieden gemusterten Körperfellen absetzte. Sie waren durchschnittlich deutlich kleiner, als Menschen, viel leichter und schlanker. Angelo erinnerte sich an die Bewegungen seiner Lehrerin im Yoga Kurs vom letzten Jahr. Bei dem Gedanken musste er schmunzeln. Die meisten Jungen waren verrückt nach ihr gewesen, er selbst hatte vor allem Angst vor ihr gehabt. Sie hatte sich unnatürlich schnell und leise bewegt, hatte auf dem Hallenboden nicht mal Vibrationen erzeugt. Man wusste nie, ob sie gerade neben einem Stand, um einen noch weiter in eine der Positionen zu drücken. Außerdem war sie gelenkiger gewesen als jeder von ihnen. Bis zum Schluss hatten ihren Ansprüchen nicht einmal die gelenkigsten Menschen genügen können. Vielleicht werde ich ja sogar mal einem Drachen begegnen, wenn ich Wächter werde, dachte er für sich selbst.
Aus dem Augenwinkel sah Angelo einen Schatten huschen. Er erkannte die zierliche, blonde Gestalt, "guten Abend Sagara. Wohin des Wegs?" Bevor er reagieren konnte, schoss eine zarte Hand aus dem Zwielicht, hielt ihm mit überraschend kräftigen Fingern den Mund zu und zog ihn mit in die Schatten hinter der Grenzmauer. "Halt die Klappe, sonst erwischen sie uns", zischte Sagara. Uns? Erwischen? Was? Angelo war verwirrt. Er befreite seinen Mund aus Sagaras Griff, "Was redest du? Und was machst du eigentlich…", die Hand fuhr wieder über seinen Mund und bevor er etwas dagegen tun konnte spürte er einen zweiten Arm, der ihn dicht an Sagaras Körper drückte. Er konnte spüren, wie sie ihren Atem kontrollierte, um nicht zu hyperventilieren. Ein sanftes Heben und Senken ihres Brustkorbs in seinem Rücken und lange, warme Atemzüge in seinem Nacken. Neben den beiden hörte er Schritte. Einer der Wachleute, die nachts das Akademiegelände patroullierten schlenderte auf seiner Runde durch das Tor. Angelo erinnerte sich, dass es kurz vor der Sperrstunde war. Das Tor würde sich gleich schließen und erst am nächsten Morgen um sechs Uhr wieder für minderjährige Schüler geöffnet werden. Der Wachmann war an ihnen vorbei, ohne sie im Schatten der Mauer bemerkt zu haben. Angelo wollte protestieren, doch Sagara führte ihn am Riemen seiner Tasche um die Ecke und er hörte nur noch, wie hinter ihnen das schwere Tor ins Schloss fiel. Die beiden standen nun auf der falschen Seite der Mauer im Schatten. Womit habe ich das verdient, Merkur?, bemitleidete sich Angelo selbst. Sagara ließ von ihm ab und drehte ihn zu sich herum. Ihre Augen schienen in der einsetzenden Dunkelheit beinahe zu leuchten. Tiefes blau mit dunklen Einsprengseln. Wie das Meer auf Capri, dachte Angelo. Ein Blick und eine Geste signalisierten Angelo, ihr zu folgen. Was blieb ihm übrig? Wenn er jetzt am Tor klopfte, würde er riesigen Ärger bekommen. Wortlos folgte er Sagara, die ihn flink und leise durch die Schatten lotste, vorbei an diversen Wachleuten und Kameras, die den Eingangsbereich der Akademie überwachten. Sagara war geschickt und bewegte sich kontrolliert und sicher durch die Bete und über die Straßen, den Blick immer um sich, auf der Suche nach Beobachtern. Sie trug eine lange, dunkle und eng anliegende Stoffhose und eine grau melierte Kapuzenjacke mit allerlei Flicken und aufgemalten Sprüchen, ihre Schuhe waren flach und weich, wie für das Schleichen und Rennen gemacht. Die Hose, die sich an ihre Beine schmiegte verriet kräftige Muskeln, die ihren schlanken Gliedern schnelligkeit und gute Balance verliehen und die weite Kapuzenjacke fiel etwas zu großzügig um ihre schmalen Schultern, die nicht im Geringsten die Kraft vermuten ließen, mit der sie eben noch Angelo in die Schatten gezogen hatte. Unter der Jacke konnte Angelo eine Umhängetasche baumeln sehen. Die Kapuze hatte Sagara abgesetzt, um ihr Sichtfeld zu vergrößern. Ihre glatten, blonden Haare hatte sie zu einem strengen Zopf gebunden, der bei jedem Schritt nach rechts und links wippte. Ein paar Strähnen hatten sich gelöst und waren schnell hinter die anliegenden Ohren geklemmt worden. Sie biss sich mit einer geraden, glatten Zahnreihe auf die schmale und fein geschwungene Unterlippe, als versuche sie, ihre Anspannung weg zu kauen. Hier ging es maximal um eine Verwarnung, so kurz nach der Sperrzeit, wie es war, also warum diese Anspannung? Ach ja. Ihr Ruf. Für sie geht es vermutlich um mehr, als nur eine Verwarnung, dachte Angelo und ihm wurde ein wenig mulmig bei dem Gedanken, mit Sagara draußen erwischt zu werden. Angelo ertappte sich dabei, eine taktisch sinnvollere Haltung einzunehmen und Beobachtungspunkte zu suchen. Na toll, genau dafür war das Training bei der Armee gedacht. Dass Du nachts aus der Schule schleichst. Du bist ein toller Soldat. Angelo fing instiktiv an, Sagara den Rücken zu decken. Sie waren nun fast am Anfang der ersten Häuser. Hier würde kaum noch jemand patroullieren. Noch ein paar Meter, dann wären sie sicher. Angelo fasste instiktiv hinter sich und berührte Sagara am Arm. Sie fuhr herum und konnte gerade noch inne halten, als Angelo eine Faust hob, um ihr Ruhe zu signalisieren. Angelo legte eine Hand auf Sagaras Schulter und drückte sie herunter, sodass die beiden hinter einem hüfthohen Busch verschwanden, gerade noch rechtzeitig, um den Blicken zweier patroullierender Wachen zu entgehen. Dieses Mal war es Angelo, der Sagara den Mund zu hielt. Ihr Gesicht war weich und glatt und ihr Atem strich schnell, aber gleichmäßig über die Härchen auf seim Handrücken. Als er sich sicher war, dass Sagara die Lage verstanden hatte, ließ er sie wieder los und sah zu ihr herüber. Sie nickte ihm verstehend zu und die beiden warteten ab, bis die Patroullie vorbei war und die Stimmen der Wachleute verstummt. Dann überquerten sie die letzte Straße und waren sicher im Schutz der Häuserschluchten von Atlantis."Du bist gut", eröffnete Sagara, "die hätten uns fast erwischt." Mit einem Grinsen zog sie ihre Jacke aus und nahm die Umhängetasche von ihrer Schulter, um sich sogleich wieder anzuziehen und die Tasche über der Jacke wieder umzuhängen. Sie hatte einen schmalen, kräftigen Körper. Nicht unweiblich, aber definitiv sportlich, und trug ein dunkel grünes Top mit breiten Trägern über einem hellen T-Shirt. Im Gegensatz zu Angelo war sie für einen nächtlichen Ausflug gekleidet. Angelo seufzte. "Verknallt, Soldatenjunge?" Sagara hatte eine Augenbraue hoch gezogen und musterte Angelo argwöhnisch, "Mach dir bloß keine Hoffnungen, Kleiner. Ich steh auf richtige Männer." "Ich wüsste nicht, was ich mit einer wie dir sollte", Angelo war wütend und zischte sie an, "und warum ziehst du mich in diesen Scheiß mit rein?" "Du hättest mich verraten. Wenn du mit drin hängst, hälst du die Klappe. Außerdem kann einem Streber, wie dir ein bisschen Spaß nur gut tun." Sagara zwinkerte ihm zu. "Wir haben verschiedene Vorstellungen von Spaß", murmelte Angelo vor sich hin. Diesen Spruch musste er in letzter Zeit zu erstaunlich vielen Menschen sagen. Was war nur los mit den Menschen aus Atlantis? "Außerdem würde ich wohl kaum Ärger bekommen, wenn ich ein paar Minuten nach der Sperrstunde ankäme", behauptete er und hoffte, überzeugend zu klingen. "Warum bist du dann nicht einfach zurück gegangen?" Gute Frage. Warum war er nicht zurück gegangen? Er hätte Sagara auch einfach laufen lassen können und sich selbst mit ein paar gezielten Komplimenten und einer Geschichte über die schlechten öffentlichen Verkehrsmittel heraus winden können. Vielleicht wäre er dann sogar ohne eine Verwarnung davon gekommen. "Trotzdem danke", sagte Sagara. Angelo blickte sie verwirrt an. Sie runzelte die Stirn, als würde sie sich fragen, was daran unklar sein könnte, "Die beiden vorhin hätten mich ohne deine Reaktion sicher erwischt." "Kein Thema." Angelo war sich sicher, dass Sagara sich selbst besser gedeckt hätte, wenn er nicht da gewesen wäre. Sie hatte sich darauf verlassen, dass der Soldatenjunge wusste, wie man sich in einer Gruppe heimlich bewegt. Sagara nahm seine Hand und zog ihn neben sich. Die beiden gingen die Straße hinunter, wärend Sagara weiter Angelos Hand hielt. "Ehm…", fing Angelo an. "So halten die Leute uns für ein Paar und ich werde nicht angegraben." Sagara grinste ihn an und ihre Augen strahlten, "einen Jungen dabei zu haben ist echt praktisch." "Und was, wenn ich eine Freundin habe und gar nicht für ein Pärchen mit dir gehalten werden will?" "Ach komm, Soldatenjunge. Jeder weiß, dass du nur für die Schule lebst und nur mit diesem Lucas und ein paar Nerds rum hängst." Sie zog ihn kurz an sich heran und gab ihm einen Kuss auf die Wange, "genieß es, so nah kommst du einem Mädchen nicht mehr bevor du hundert wirst." Angelo wusste nicht, ob er genervt, amüsiert oder sauer sein sollte. Was bildete sich dieses Gör ein? "Mein Name ist Angelo." "Was?" "Angelo. Ich heiße Angelo, nicht Soldatenjunge." "Aber An-ge-lo ist schwer zu sprechen", Sagara legte einen Finger ihrer freien Hand an ihr Kinn, als würde sie angestrengt nachdenken, "Wie wäre es mit Ansch." "Was?" "Ansch. Ich nenne dich einfach Ansch." Ansch. Angelo wiederholte es in Gedanken, um sicher zu gehen, dass er es wirklich gerade gehört hatte. Ich glaube, ich spinne. Und warum hielt er überhaupt noch ihre Hand? "Wir sind da.", Sagara ließ ihn los und öffnete eine schlichte, graue Metalltür in einer regenfleckigen Hauswand. Laute Musik und der Gestank von Tabak und Alkohol schlugen Angelo entgegen. Er hatte nicht gemerkt, wie weit sie schon gegangen waren. Dies hier war eine der letzten Straßen vor dem großen Stadtpark. Weit genug von der Akademie entfernt, um auf keinen Fall erwischt zu werden, aber nah genug dran, um im Notfall schnell wieder im Schutz der Wachleute zu sein. Angelo gefiel einerseits, wie dieses Mädchen dachte, andererseits war ihm auch mulmig bei dem Gefühl, dass sie es wohl für notwendig hielt, über einen taktischen Rückzug nachzudenken. Der Schuppen, in den sie gerade gingen war alles andere, als vertrauenerweckend. Sie gingen eine enge, schmutzige Treppe nach unten und gelangten in einen verqualmten Raum, in dem laute Musik lief. Eine seltsame Mischung aus elektronisch abgenommenen Saiteninstrumenten und Dudelsäcken mit erratischen Rhythmen. Der Raum war mit durchgesessenen Sofas gefüllt und an einer Wand befand sich eine Theke, hinter der ein vierschrötiger Mann stand und Bier zapfte. Sagara ging ohne Umweg zur Bar und begrüßte den Wirt, der ihr nach einem kurzen Wortwechsel zwei Glaser mit bernsteinfarbener Flüssigkeit und eines mit Gebäckstangen in die Hand drückte. Sie ging zurück zu Angelo, der noch immer den Raum musterte. Es gab keine Fluchtwege, außer der Treppe, die sie herunter gekommen waren. Auf einigen der Sofas saßen Männer und Frauen. Manche spielten Karten, einige unterhielten sich oder machten rum, viele rauchten. Angelo war nicht wohl bei dem Gedanken, hier unten zu sein. Irgendetwas stimmte nicht. "Komm", wies ihn Sagara an und ging zu einem leeren Sofa. Sie setzte sich, stellte den Knabberkram auf den kleinen Tisch vor dem Sofa und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Platz neben sich. Angelo bließ die Luft aus, von der er erst jetzt merkte, dass er sie angehalten hatte und zwang sich dazu, sich zu entspannen. Er setzte sich neben Sagara, die ihm eins der Gläser in die Hand drückte. "Die erste Runde geht heute auf mich." Sie stieß mit ihrem eigenen Glas an Angelos und lächelte verschwörerisch, "Auf die Freiheit!" Sie setzte das Glas an ihre Lippen und nahm einen tiefen Schluck, worauf sie sich auf das Sofa zurück sinken ließ und den Kopf auf die Rückenlehne legte. Angelo roch an dem Glas. Wie er es erwartet hatte, befand sich darin hochprozentiger Alkohol. Whisky. Und kein billiger Fusel. Er war fast schon ein bisschen beeindruckt. Sowohl von dem Laden, als auch von Sagaras Geschmack. Er nippte am Glas und schwenkte den Schluck in seinem Mund über die Zunge und den Gaumen, bevor er ihn schließlich seinen Rachen herunter gleiten ließ. Er atmete langsam aus und spürte die Wärme des Whiskys in seiner Brust aufsteigen. "Glennlomen. Achtzehn Jahre. Limitierter Export aus Schottland", sagte er trocken vor sich hin. Sagara setzte sich auf und starrte ihn ungläubig an. Sie lehnte sich vor, bis sie nah genug an ihm dran war, um in normaler Lautstärke mit ihm sprechen zu können, "Du bist ja doch nicht so langweilig. Aber…", sie nippte an ihrem Glas. Angelo fiel auf, dass sie schon die Hälfte geleert hatte, "… wie machst du das?" Angelo tippte mit dem Zeigefinger an sein Glas und tat so, als würde er überlegen. "Die Aromen", erwiderte er nach einer Weile, "sind unverwechselbar. Eine leichte Kakaonote und der torfige Abgang, sowie eine feurige Wärme im Magen und fruchtige Auszüge von Feige und Apfel in der Blüte." Sagara zog eine Augenbraue hoch, "Du willst mich verarschen." "Natürlich", erwiderte Angelo, grinsend. Sagara nahm noch einen Schluck und kam noch ein wenig näher. Ihr Atem roch bereits nach Alkohol. Angelo war sich sicher, dass er diesen Abend bereuen würde. "Im Ernst. Woher weißt du das?" Angelo zeigte auf die Theke. "Die Whiskys stehen alle auf dem Regal hinter dem Wirt. Der Whisky hier ist ein Scotch, darum fallen alle auf der linken Seite weg, das sind irische." Er sah Sagara in die Augen. Ihr Mund bewegte sich. Sie schien sich zu konzentrieren und dabei auf ihren Lippen zu kauen. "Auf der rechten Seite stehen nur drei Whiskys, die den Namen verdient haben und nur zwei sind Single Malt. Der eine ist ein Exportschlager und schmeckt komplett anders. Also bleibt nur der letzte und was es für einer ist, steht auf dem Etikett." Angelo nahm noch einen Schluck. "Ich habe gute Augen und du hast guten Geschmack." Er rang sich ein Lächeln ab und hoffte, dass es nicht zu aufgesetzt aussah. Sagara lehnte sich wieder zurück und schmunzelte vor sich hin. "Ich bin gerade echt beeindruckt, Ansch. Vielleicht sollte ich dich öfter mal mitnehmen." "Ich wäre dafür, innerhalb der Sperrzeiten in der Akademie zu bleiben. Und das solltest du auch tun." Sagara verdrehte die Augen und kramte in ihrer Tasche herum. "Und schon bist du wieder langweilig." Sie brachte eine Dose mit Tabakröllchen zum Vorschein und zündete sich eine davon an. Sie hielt die Dose Angelo hin, der mit einer Geste ablehnte. Kopfschüttelnd steckte Sagara den Tabak wieder ein und murmelte etwas vor sich hin. Angelo war sich sicher, dass er das Wort Langweiler von ihren Lippen ablesen konnte. Sagara warf einen Blick auf Angelos Glas und ging kopfschüttelnd zur Theke, um sich ein neues zu holen. Dieses Mal mit einer klaren Flüssigkeit. Der kalte Gestank von Wodka stieg Angelo in die Nase. Er war sich sicher, dass Sagara keinen billigen Alkohol bestellt hatte und wunderte sich immer mehr, ob dieser Schuppen eine billige Absteige war oder ein teurer Szenetreff. Oder vielleicht eine Mischung aus beidem, dachte er. Sagara hatte das Glas schon fast geleert, als Angelo das nächste Mal einen Schluck von seinem Whisky nahm. Als er das erste Mal bei der Armee Whisky probiert hatte, fand er den bitteren Alkoholgeschmack einfach nur widerlich. Mit der Zeit hatte sich sein Geschmack jedoch geändert und jetzt, mit siebzehn Jahren, fand er Whisky gar nicht so übel. Auch wenn er, was er seiner Herkunft zuschrieb, eher roten Wein mochte. "Machst du sowas öfter?", fragte er Sagara. "Wann immer ich eine Gelegenheit finde, aus der Akademie zu fliehen", antwortete sie, "da drin fühlt es sich an, als wäre ich in einem Käfig. Hier bin ich frei und kann tun und lassen, was ich will." Hmm, brummte Angelo als Antwort. Wenn sie einer reichen Familie angehörte, musste es doch ein Leichtes für sie sein, sich wann immer sie wollte frei zu bewegen. "Hey Süße! Ich hatte gehofft, dich heute hier zu treffen", kam eine schrille Männerstimme von der Seite. Angelo drehte sich nach der Stimme um und sah wie ein hagerer Typ mit Tattoos, die sich über die vernarbten Arme bis hin zum Hals wanden und einer Glatze neben Sagara schob. Sagara, die das zweite Glas geleert hatte und schon sichtlich angetrunken war änderte schlagartig ihre Haltung. Bei Angelo läuteten alle Alarmglocken. Von diesem Typ ging Gefahr aus. "Keine Panik!", der Neuankömmling hielt beschwichtigend eine knochige Hand hoch. "Ich wollte nur fragen, wann ich denn mein Geld wieder sehe. Oder willst Du mir das Grünzeug wieder geben?", er zwinkerte Sagara zu. "Sorry, Mike. Ich hab gerade nicht so viel dabei. Wie wäre es nächste Woche? Selbe Zeit?" "Ach komm Süße, wir sind doch beide keine Kinder mehr. Verarschen kann ich mich alleine." Er blickte an Sagara herunter, "Du könntest mich auch anders bezahlen. Ich bin sicher im Hotel gegenüber ist noch ein Zimmerchen frei." Sagaras Blick füllte sich mit Abscheu und ihr Gesicht verwandelte sich in eine Fratze des Ekels. "Nein danke. Ich bin mit meinem Schatz hier voll und ganz zufrieden", sagte sie und nahm Angelos Hand. Zieh mich bitte nicht da mit rein. Verdammt! Angelo versuchte, die Lage einzuschätzen. Mike schien allein zu sein, jedoch verhielten sich ein paar der Gäste so, als würden sie die Szene heimlich beobachten und Angelo war sich nicht sicher, auf welche Seite sie sich schlagen würden, wenn es eskalierte. Bis zur Treppe waren es nur wenige Meter und auf der Straße wären sie halbwegs sicher. Aber Sagara war betrunken und würde nicht effizient weglaufen können. Und er allein hatte keine Chance gegen mehrere Männer mit Kampferfahrung. "Oh wie süß", witzelte Mike, "Er kann gern zugucken, vielleicht lernt er dann ja, wie man es einer Frau richtig besorgt." Er legte Sagara eine Hand auf den Oberschenkel und glitt damit an ihrem Bein nach oben. Sagara sprang auf und wollte ihm eine Ohrfeige verpassen, doch Mike reagierte schneller und fing ihren Schlag ab. "Oder ich nehme mir, was ich haben will, Süße." In diesem Moment traf Mike ein gezielter Fußtritt mit voller Wucht gegen den Brustkorb, sodass er über die Lehne vom Sofa fiel. Angelo, der aufgesprungen war und mit einem Sprung an Sagara vorbei geschossen kam, um Mike zu treten nahm sie bei der Hand und drückte ihr ihre Tasche fest gegen den Körper, sodass sie instiktiv danach griff und sie festhielt. Mist, ich spüre den Whisky doch, dachte Angelo und atmete tief aus, um das benommene Gefühl abzuschütteln. Noch bevor einer der anderen reagieren konnte oder Mike sich von dem Tritt und dem Sturz erholt hatte, zog Angelo Sagara hinter sich her und stürmte mit ihr zur Treppe. Er stützte sie, so gut er konnte und die beiden schafften es auf die Straße, bevor hinter ihnen die Tür gegen die Wand prallte und zwei breit gebaute Männer aus der Tür gerannt kamen, die sich wutschäumend nach den beiden flüchtenden Jugendlichen umsahen. Hinter ihnen hörte Angelo Mike Befehle brüllen. "Scheiße, renn!", rief Angelo an Sagara gewandt und die beiden rannten, so schnell ihre Beine sie tragen konnten. Sie mussten nur zwei Querstraßen schaffen, danach wäre es für ihre Verfolger zu gefährlich, sie zu verfolgen. Nur wenige hundert Meter bis zur Sicherheit.
Angelo hörte Schritte und keuchenden Atem hinter sich. Zu nah. Angelo drückte Sagara noch ein wenig weiter weg und blieb dann abrupt stehen, während er seinen Ellenbogen nach hinten schwang. Er hatte richtig geschätzt und der harte Knochen traf seinen Verfolger durch den Schwung der Bewegung und des Rennens so hart im Gesicht, dass dieser umfiel, als sei er gegen eine Wand gerannt. Angelo ließ seinen Arm auf schnellen und der Verfolger wurde noch im Fallen auch noch von seiner Faust im Gesicht getroffen. Er schlug hart auf dem Boden auf und blieb regungslos liegen. Der andere Verfolger kam mit einem Tritt auf Angelo zu, doch dieser drehte sich geschickt aus der Flugbahn des Fußes und lenkte diesen mit seinem Unterarm weiter, sodass der Angreifer in einem abrupten Spagat landete. Die Miene des Mannes verzog sich in eine Maske des Schmerzes, bevor Angelo ihm aus der Drehung heraus auch noch das Knie mit voller Wucht in sein Gesicht rammte. Der Mann klappte, wie vom Blitz getroffen hinten über und blieb liegen. Inzwischen war Mike auf der Straße angekommen. War das eine Pistole in seiner Hand? "Bleib nicht stehen, renn!", wies Angelo Sagara an und die beiden rannten um die nächste Häuserecke. Eine Querstraße weiter bogen sie wieder ab und standen wenige Meter weiter hinter der Außenmauer der Akademie. Sagara schien inzwischen genug Adrenalin im Blut zu haben, um den Alkohol nicht mehr zu spüren. Sie übernahm die Führung und suchte die Mauer ab. Nach ein paar hundert Metern kamen sie an eine Stelle, an der eine Luke in der Mauer eingelassen war. Sagara holte ein Lineal aus ihrer Tasche und schob es zwischen die Luke und den Rahmen. Mit einem Klicken öffnete sich die kleine Tür und wenige Augenblicke später waren die beiden innerhalb der Akademie und hinter der verschlossenen Luke in Sicherheit. Jedenfalls wenn da nicht die Nachtwachen gewesen wären. Doch die wussten nicht, dass die beiden durch die Dunkelheit schlichen und hatten geplante Routen, wodurch sie sie leicht umgehen konnten. Sagara bewegte sich noch immer schnell und geschickt durch die Schatten und zog Angelo hinter sich her. Angelo war ganz glücklich darüber, dass sie die Führung wieder übernommen hatte, denn sie schien die Routen und das Timing der Wachen zu kennen, wodurch sie ohne entdeckt zu werden schon bald vor einer der Quartiertüren standen. Sagara holte eine Schlüsselkarte heraus und öffnete die Tür. "So Ansch. Jetzt ist es Zeit für einen Gute-Nacht-Kuss und dann ab in die Heier." Sagara schwankte wieder ein bisschen, das Adrenalin schien auch bei ihr inzwischen nachzulassen. Sie grinste ihn an, "Komm bloß nicht auf die Idee mich wirklich zu küssen! Du hast...", sie hielt inne, "Fuck!" Mit einem Ruck am Arm befand sich Angelo im inneren von Sagaras Zimmer und hörte, wie hinter ihm mit einem gedämpften Klicken die Tür ins Schloss fiel und ihn umfing Dunkelheit. Ohne Licht und die Möglichkeit, sich optisch zu orientieren und in der stille eines geschlossenen Raumes konnte Angelo sein Herz pochen hören und ein Rauschen füllte seine Ohren, das nur von zwei viel zu lauten Atemgeräuschen drinnen bei ihnen und dem schweren Klacken von Einsatzschuhen auf gefliestem Boden draußen unterbrochen wurde. Angelo spürte, wie etwas an seinem Sweatshirt zog und im nächsten Moment verlor auch er das Gleichgewicht und purzelte, verzweifelt mit den Armen um sich greifend in der Hoffnung etwas zum Festhalten zu finden auf den Boden. Er war auf einem weichen Teppichboden gelandet und Sagara schien sich im Fallen halb auf ihn gedreht zu haben, denn er spürte Gewicht auf seinem Rücken und hörte ihren Atem nah an seinem Gesicht. Die Schritte waren noch immer zu hören. "Wehe, du versuchst irgendwas. Dann schreie ich", flüsterte Sagara so nah an seinem Gesicht, dass er ihren Atem beim Sprechen an seiner Stirn spürte. "Ich hab gerade echt andere Sorgen", raunte Angelo zurück.
So lagen sie noch eine ganze Weile da, bis die Schritte der Wachen endgültig verhallt waren. Sagara krabbelte von Angelo herunter und kramte in der Richtung herum, die er als Ausgang in Erinnerung hatte. Es klickte und plötzlich war das Zimmer in helles Licht getaucht. Sagara stand an der Tür und hatte den Lichtschalter umgelegt. Angelo fand sich auf einem bunten Teppich mit langem Flor wieder. Das Zimmer war, wie für die Quartiere der Akademie üblich, mit Standardmöbeln eingerichtet. An den Wänden hatte Sagara diverse Poster von Bands und Filmen aufgehängt und auf den Regalen standen Deko und, was Angelo wunderte, Blumen. In einigen Nischen in den Regalen und auf einer der Fensterbänke konnte Angelo Fotorahmen erkennen. Er setzte sich auf, während Sagara in einem ihrer Schränke kramte. Die Fotos zeigten einen jungen erwachsenen Mann und einige Kinder mit blonden Haaren und eine Frau mit weißblonden Locken. Ihre Familie, dachte Angelo. Er erkannte Sagara auf dem Foto mit dem jungen Mann, Ihr Vater ist nicht dabei. Der Mann ist zu jung. Angelo hörte es hinter sich leise klimpern. Sagara hatte eine Flasche Rotwein und zwei bauchige Weingläser hervorgekramt. "Vielleicht ist das mehr dein Ding." Sie entfernte den Korken mit einem Kellnermesser und füllte die Gläser bis zur Mitte mit Wein. Danach überreichte sie Angelo eines davon. "Vielleicht sollte ich besser gehen", warf dieser ein. "Du musst noch mindestens zwei Stunden warten, sonst läufst du definitiv einer der Patrouillen in die Arme." Sie schwenkte das Glas vor Angelos Nase hin und her. Der Wein hinterließ gleichmäßige, schmale Fenster an der Wand des Glases. "Ich könnte einfach sagen, ich habe Kopfschmerzen und will mir Schmerzmittel aus der Krankenstation holen." "Schmerzmittel sollte man nicht nehmen, wenn man Alkohol getrunken hat", erwiderte Sagara schnippisch, "Weißt du, die Wachen sind nicht dumm, nur etwas langsam." Angelo verstand. Er roch nach Whisky. Das würde den Nachtwachen auffallen, wenn er mit ihnen redete. Sie waren auf so etwas trainiert. Sagara schwenkte das Glas noch einmal und Angelo nahm es mit einem Nicken entgegen. Sagara setzte sich auf ihr Bett und Angelo nahm in einem Sessel in einer Ecke des Raumes Platz. Der Wein war gut. Ein trockener und dennoch frischer Geschmack wurde abgerundet von einem erstaunlich weichen Gefühl im Abgang. Angelo schalt sich selbst, dass er kein Clicheerömer sein wollte. "Spielst du Zitter?", fragte er, als sein Blick auf das Instrument fiel, dass auf einem Regal über dem Bett lag. "Nein, die liegt da nur zur Zierde", entgegnete Sagara und schenkte sich das dritte Mal Wein nach. Ihr Blick war inzwischen wieder glasig und Angelo konnte sie selbst auf dem Bett sitzend wanken sehen. Er selbst vertrug Wein sehr viel besser, als Whisky und konnte gut einschätzen, wie betrunken er davon werden würde. Dieses eine Glas würde seine Wahrnehmung nicht nennenswert trüben. "Eigentlich war das ein ganz lustiger Abend", murmelte Sagara vor sich hin, "was meinst du, Ansch?" "Ich finde, du solltest dich an die Sperrzeiten halten, bis du volljährig bist." Sagara stellte klirrend das Glas auf ihren Nachttisch. "Sperrzeiten, bis ich volljährig bin, Akademie, bis ich fertig bin, der Familie zur Ehre gereichen bis ich verheiratet oder tot bin." Sie lehnte sich schmollend mit vor der Brust verschränkten Armen an die Wand hinter ihrem Bett. "Ich bin es leid, immer das zu machen, was andere mir vorschreiben. Ich will mein eigenes Leben leben. Musik machen, Wissenschaftlerin werden, meine eigenen Entscheidungen treffen." Angelo seufzte und nahm noch einen Schluck Wein. "Wenn du nicht immer so den Langweiler raus kehren würdest, hätten wir heute Nacht noch rumknutschen können." "Nein danke, ich verzichte." "Hast du Angst, dass deine Freundin es rausfindet oder bist du zu feige um ein Mädchen zu küssen?", sie zog wieder eine Augenbraue hoch, "Aber du hast ja gar keine Freundin. Stehst du auf Jungs? Diesen Typ mit dem du immer rumhängst, Lucas, seid ihr ein Paar?" "Keine Freundin. Nicht zu feige. Lucas ist ein Schulfreund." Sagara sprang vom Bett auf und kam, gefährlich schwankend, bis auf wenige Zentimeter an Angelo heran. "Und was spricht dann dagegen?" Sie spitzte die Lippen und kam noch ein stück näher. Angelo legte einen Finger auf ihre Lippen und sah sie ernst an, "Du bist betrunken." Sagara hielt inne und lies sich dann wieder zurück auf das Bett sinken. "Du bist wirklich ein Langweiler", murmelte sie und schloss die Augen. Eine Minute später, beruhigte sich ihr Atem und sie war eingeschlafen. Angelo schüttelte den Kopf und leerte sein Weinglas. Womit habe ich das verdient?
Am nächsten Morgen wurde Angelo von Sagaras Stimme geweckt. "Oh nein, bitte sag, dass das nicht wahr ist!" Verdutzt öffnete er die Augen. Sagara saß auf ihrem Bett und hatte sich die Decke um die Schultern gezogen. "Was?", fragte er schlaftrunken. "Wir haben gestern nicht…?", sie sah an sich herunter. "Ich hab dir die Schuhe und die Jacke ausgezogen und dich zugedeckt," murmelte Angelo benommen. Sein Schädel dröhnte. Er war es nicht mehr gewohnt, so viel Alkohol zu trinken. "Was glaubst du eigentlich, was ich für einer bin?" "Ein Kerl?" "Du hast echt beschissenen Umgang…" Sagara senkte den Blick. "Ich weiß." Sie zog die Decke fester um sich. "Das mit Mike tut mir leid." Angelo setzte sich im Sessel auf. "Eigentlich schade, dass wir uns jetzt in der Kneipe nicht mehr sehen lassen können." Er lächelte. "Da war es eigentlich ganz gemütlich." Sagara pfefferte ihm ein Kissen gegen die Brust. "Verarsch mich nicht!", rief sie, halb lachend. Plötzlich wurden ihre Augen groß. "Wie spät ist es?" Angelo lehnte sich im Sessel an. "Die ersten Stunden fallen heute aus für uns. Wir haben eine Sondererlaubnis, bis Mittag für ein Referat zu arbeiten." Sagara sah ihn ungläubig an. "Wir haben kein Referat zusammen…" "Es gibt auch keinen Vortragstermin. Nur die Lernerlaubnis." Sagara saß mit offenem Mund da. Angelo grinste breit. "Einer der", er machte Anführungszeichen mit den Fingern, "Nerds, mit denen ich immer abhänge, schuldete mir noch einen Gefallen und hat die Genehmigung auf dem Schulserver eingetragen." "Aber lassen die sich das nicht bestätigen?" "Es gab heute Nacht einen Absturz und alle Namen auf den Einträgen sind verloren gegangen. Und für eine einmalige Genehmigung für wenige Stunden wird niemand das gesamte Kollegium befragen." Sagara machte den Mund auf und zu, lehnte sich zurück und musterte Angelo. "Ich weiß nicht, was ich sagen soll." Angelo lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er war müde. "Wie wäre es mit 'Danke für den schönen Abend und das Alibi, Ansch'?". Er hörte, wie sich Sagara bewegte und aus dem Bett aufstand. Der Sessel war zwar bequem, aber nach dem kurzen Nickerchen von vorhin merkte Angelo nun eindeutig, dass er kein Ersatz für sein Bett war. Er öffnete die Augen und fand Sagara vor sich hockend vor. Sie sah ihn mit schräg gelegtem Kopf an, als würde sie über etwas nachdenken. "Was?" Er erhob sich vom Sessel und Sagara folgte seiner Bewegung und stand auf. "Du bist ganz und gar nicht langweilig." Sie sagte das, als wäre sie überrascht. Angelo ging zur Tür und öffnete sie. Bevor er nach draußen trat drehte er sich noch einmal um und sah Sagara mit müden Augen ins Gesicht, "Entscheid dich." Mit diesen Worten trat er vor die Tür, doch bevor er sie zu ziehen konnte, spürte er Zug an seinem Ärmel. Als er sich umdrehte sah er Sagara vor sich, die den Blick gesenkt hatte. Sie ließ seinen Ärmel los. "Danke für den schönen Abend und das Alibi, Ansch." Angelo lächelte, "gern geschehen." Er ging zu seinem Zimmer, müde und mit Kopfschmerzen. Viel Wasser und eine kalte Dusche würden das wieder richten. Aber zuerst musste er noch ein paar Stunden schlafen. Noch war genug Zeit. Dank seines Alibis hatte er den ersten Unterricht erst um vierzehn Uhr. Angekommen ließ er sich einfach auf sein Bett fallen und versank sofort in Dämmerschlaf. Was für eine Nacht...